Das Stymphalische

 

Manfred von Linprun, Neues zur Chaotik,

Oktober 2022 Bild Nr. 60 JPG“

 

 

Nachdenken über das Stymphalische

 

In den stymphalischen Sümpfen hausten der Sage nach riesige Vögel, halb Lebewesen, halb Maschinen: die Stymphaliden. Ihre Schnäbel und Klauen waren aus Eisen, und ihre Angriffe auf Menschen und Tiere endeten in fürchterlichen Blutbädern, zumal sie zusätzlich noch ihre ebenfalls stählernen Federn dank eines raffinierten Mechanismus wie Pfeile abschießen konnten, die selbst den härtesten Panzer zu durchbohren vermochten. Herakles sollte dieser Plage ein Ende machen. Mit göttlicher Hilfe gelang ihm dies auch.


Die Stymphaliden – Mischwesen aus Fleisch und Blut und Eisen, aus einem lebendigen Vogelkörper und einer Maschine.


Ich nenne ein solches Wesen stymphalisch, das noch die primären Kennzeichen eines spezifischen Lebewesens, beispielsweise eines Vogels, eines Säugetieres, eines Menschen aufweist, gleichzeitig aber in zunehmendem Maß Eigenschaften von wem auch immer ersonnener und konstruierter Maschinen angenommen hat bzw. annimmt, mittels derer es sein Verhalten modifizieren, mechanisieren, effektiver und effizienter gestalten kann. Ein solcher „Stymphalide“ ist also eine Weiterentwicklung von Vogel, Säugetier oder Mensch im herkömmlichen Sinn.

Keine Neuschöpfung. Kein Maschinenvogel, Maschinensäugetier, Maschinenmensch.

Keine Menschenmaschine, Säugetiermaschine, Vogelmaschine.


Diese Weiterentwicklung kann als Allegorie verstanden werden, die auf die Form des Lebens in einer realen Zukunft verweist.

Warum ließ mich das oben genannte Bild beinahe reflexartig an die stymphalischen Sümpfe, an diese merkwürdigen Vogelmischwesen, an die von ihnen ausgehenden Gefahren, an ihre Überwindung durch Herakles denken?


Das Bild ist ein Bild der Chaotik. Als ein solches ist es vieldeutig, verwirrend und irritierend.

Es erschreckt, fasziniert und bestrickt mich, immer wieder, lässt mich als Betrachter nicht los, zieht mich in seinen Bann und zwingt mich durch die ihm inhärente Bewegung zu Denkbewegungen. Deren erste berührte ganz und gar unwillkürlich das Stymphalische, das Neben-, nein, das Ineinander von Organischem und Anorganischem, von kalter Technik und warmem Leben, von Metall und Fleisch, von Glut und klirrender Kälte, von schlangenhaften Tanzbewegungen und frostiger Starre in einem einzigen, vieldeutigen Gebilde, das ungeschlechtlich-geschlechtlich in sich dauernd Ungeheuer und Engel erzeugt und ausbildet.


Ein Bild, doch keines im Sinn eines Abbildes, sondern eines Vexierbildes, eines Schaubildes, eines Bildes, das das Wesen der Welt, unser Wesen sichtbar, erkennbar macht als eine unauflösliche dynamische Verquickung von Geist und Materie, eine Mischung, in der Geist und Materie, untrennbar verbunden, sich dauernd gegenseitig antreiben, anhalten, Leben spenden, Leben beenden, und im Beenden des Lebens neues Leben erzeugen!


Ein Bild, in dem eine „Geistmaterie“ sich immerzu verwandelt, sich dauernd neue Formen schafft, sich umformt in ein so genanntes Böses, in ein so genanntes Gutes, in „Gut-Böses“, in „Bös-Gutes“!


Böse Vögel werden gute Vögel, gute Vögel werden böse Vögel, und hässliche Vögel werden schön, schöne hässlich, schön und hässlich in jeweils unzähligen Abstufungen.


Hässliche glänzen plötzlich, glitzern, leuchten bunt auf, ermatten in Monochromie, zwitschern, gurren, krächzend, flöten, werden zahme Stymphaliden, gefütterte, gepflegte, geliebte! Werden zu Stymphaliden, die ihre Technik segensreich einsetzen, mit ihren Krallen die Erde pflügen, mit ihren Pfeilen für Nahrung sorgen.

Schöne Vögel werden plötzlich zu hässlichen, aggressiven Stymphaliden, zu verachteten, unterdrückten, gehassten, zu Stymphaliden, die ihre Technik zerstörerisch einsetzen, ihre Krallen zum Töten ausfahren, ihre Federpfeile verschießen, Schrecken verbreiten, Kriege führen, Lebendiges vernichten.


Und Herakles?


Herakles, das sind wir: Halbgötter.


Siegreiche und scheiternde, gewinnende und verlierende, schöne und hässliche, jeweils beides.

Wir überwinden.

Wir unterliegen.

Wir überwinden …



Georg Apfel


 


 

 

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